An alle unsichtbaren Heldinnen da draußen.
Wenn man durch die Korridore einer Kinderwunschklinik geht, findet man dort drei Arten von Patienten vor.
Die eine Art ist ein Paar. Sie hat eine große Tasche in der Hand, ihr(e) Partner(in) eine Stapel Papier und Werbeflyer. Ihre Augen leuchten. Ihre Atmung ist aufgeregt. Sie sind rot im Gesicht. Sie lächeln. Denn sie hatten gerade ihren ersten Beratungstermin hinter sich und wurden vom Arzt positiv überrascht. Sie wussten nämlich nicht, ob man ihnen denn überhaupt helfen kann und wie langwierig (bestimmt Jahre!) die Behandlung sein wird.
Und der Arzt hat gesagt: “So, wir beginnen die Behandlung übermorgen, und in zwei Wochen ist eine
OP, 5 Tage danach die zweite OP und 14 Tage danach dürfen Sie schon einen Schwangerschaftstest benutzen. Die Chancen zur Schwangerschaft stehen bei Ihnen nicht schlecht, zu 30%.”
Wahnsinn, “mit ein wenig Glück” können sie bereits in einem Monat schwanger werden!
Die zweite Art der Patientinnen kommt oft alleine. Die Frau bewegt sich zielstrebig, effizient und routiniert. In der Hand nur eine Geldbörse. Erst am Empfang die Patienten-ID durchgeben, dann direkt ins Wartezimmer. Noch schnell vor der OP klares Wasser trinken. Nach der OP direkt auf die Toilette. Blut muss man heute nicht abgeben, dafür letztes Mal fünf Ampullen.
Sie hat bereits mehrere Versuche hinter sich. Die Krankenkasse war bei der ersten zwei Versuchen mit dabei. Jetzt ist sie auf sich alleine gestellt. Rechnungen in vierstelliger Höhe machen ihr keine Angst mehr. Sie kennt sich nun mit Endometriose, Killerzellen, Entzündungen, Insulinresistenz und Genetik aus. Vieles wurde bereits untersucht, einige Untersuchungen schiebt sie noch vor sich her. Dem Apotheker friert das professionelle Lächeln im Gesicht, wenn er ihr Rezept mit ganz starken, gefährlichen Hormonen liest. Zuhause warten auf sie eine Großpackung von Schwangerschaftstests und 150 Gb an Dateien, die ihr vollständiges Genom abbilden.
Wenn die Erfolgschance bei einem Versuch 30% ist, ist sie nach zwei Versuchen schon 51%, nach drei 65,7% und nach vier 76%. Irgendwann wird es klappen!
Toi toi toi.
Und es gibt dort eine weitere Patientinnen-Gruppe. Diese Frauen brauchen am Empfang keine ID – man kennt sich bereits. Eine kurze, leise Unterhaltung im ruhigen Ton, eine Unterschrift. Im Wartezimmer sitzen sie wie versteinert und schauen nur vor sich hin.
Blicke bloß nicht zu tief in ihre Augen!
Denn dort plätschern ihre Erinnerungen.
Die Erinnerung von der ersten Schwangerschaft, wo sie und ihr(e) Partner(in) überglücklich gewesen sind. Wo sie schon Gedanken über eine größere Wohnung, und Ersteinrichtung, und den Namen, und die Kindererziehung gemacht haben.
Und darüber, wie sie zum ersten Mal das schlagende Herz von ihrem Baby gesehen hat, und danach mit dem Partner Händchen gehalten hat und nur raus, raus, raus in die Natur wollte, damit der Wind ihre Haare in Unordnung bringen und sie sich müde spazieren konnte.
Und dann diese absolute, schwarze, unendlich lange Stille, als beim nächsten Ultraschall die Ärztin gesucht und gesucht, und wieder geprüft hat, und sie es nicht mehr aushalten konnte und (wie sie dachte, im ruhigen Ton) gefragt hat “Nichts mehr!?”
Und wie sie direkt als zweites gefragt hat, wann man frühestens den nächsten Versuch starten könnte, weil sie es nicht wahrhaben wollte, dass ihr erstes Kind gerade ungeboren gestorben ist und dass das ab jetzt und für immer Fakt ihres Lebens ist und erstmal verarbeitet werden musste.
Und wie ihr verstorbenes erstes Kind zwei Wochen lang nicht natürlich abgehen wollte, als ob die Mutter es nicht loslassen konnte und noch gehofft hat, dass es ein Fehler ist und eine andere Ärztin den Herzschlag wieder findet. Und wie sie dann nachts um 4 in ihrer Badewanne selbst die Fehlgeburt gemacht hat und im Blut, Gewebe und Plazenta ihr erstes Kind herausgefischt hat.
So groß wie ein Walnuss.
Und wie sie in unzähligen schlaflosen Nächten darüber gegrübelt hat, ob sie es überhaupt wert ist, ein Kind zu bekommen.
Ob sie überhaupt Mutter werden kann.
Ob sie überhaupt eine Frau ist.
Ob sie Frau ist?
Und ob ihr(e) Partner(in) sie auch dann liebt und mit ihr zusammenbleibt, wenn sie niemals ein Kind bekommt?
Und wie sie dann wieder ganz normal zur Arbeit gehen und Freunde und Familie treffen musste. Und wie sie sich mit der ganzen Welt ganz normal unterhalten musste, denn niemand soll je über ihre Fehlgeburt erfahren, obwohl sie Tag und Nacht nur eins wollte: laut heulen, heulen, heulen, heulen…
Heulen, bis die Stimme versagt und die Tränen nicht mehr kommen.
Und wie sie letztendlich den Captain America in sich entdeckt hat, der gesagt hat “I can do this all day” und ihr gehofen hat, sich wieder zu sammeln, aufzustehen und den nächsten Versuch zu starten.
Denn nichts kann eine Frau aufhalten, die Mutter werden will.
Und nichts sollte bei uns Männern den Atem zuverlässiger stocken als der Anblick einer Frau Anfang 40 mit einem kleinen Regenbogenbaby in der Hand. Denn sie wird genauso wie alle anderen Frauen aussehen, und du wirst niemals erfahren, wie viele chemische Schwangerschaften, Fehlgeburten und Totgeburten sie erlebt und überlebt hat, und dann immer wieder aufgestanden ist.
Jede zweite Frau über 40 mit Kinderwunsch hatte schon mal eine Fehlgeburt hinter sich.
Jede dritte Empfängnis endet in einer Fehl- oder Totgeburt.
Niemand redet darüber.