MVP, oder?

Ich mag es nicht, wenn Begriffe falsch verwendet werden. Menschen, die sorglos mit Wörter ungehen, sind auch sorglos in ihrem Denkprozess, ziehen deswegen häufiger falsche Rückschlüsse und bringen sich und ihre Umgebung (also auch mich) unnötig in Gefahr.

Heute möchte ich über das MVP sprechen (Minimum Valiable/Viable Product).

Zunächst einmal ist es ein Product – also etwas, für was Kunden Geld oder Geld-Ersatz (z.B. Informationen, Leads, Traffic usw) bezahlen können. Also nicht etwas, wo die Kunden nur sagen können, sie hätten dafür sogar Geld bezahlt. Und nicht etwas, was die Kunden lieben, oder was sie gut finden oder den Freunden empfehlen. Nein. Ein MVP muss von den Kunden tatsächlich gekauft werden können – und wird dann auch tatsächlich geliefert und seiner Bestimmung nach verwendet. Wir merken uns: Fake Doors sind kein MVP, weil sie nicht gekauft und nicht geliefert werden. A/B Tests sind meistens auch kein MVP, weil sie kein Produkt, sondern nur eine Seite oder ein Feature des Produkts testen. Nur wenn man einen A/B Test so durchführt, dass man selbst ein eigenes Bier braut und es neben einem Markenbier in einen Ladenregal stellt und verkauft, und danach die Conversion berechnet, kann man über einen MVP sprechen.

Eine weitere Konsequenz, die wir uns merken sollten: wenn eine Organization zu viele Produkt-Managers beschäftigt, was meiner Erfahrung nach des Öfteren der Fall ist, verantwortet nur ein Bruchteil von denen ein Produkt. Solche Sachen wie Startseite, Login, Payment, Detail-Seite sind alle keine Produkte, weil sie von den Kunden nicht gekauft werden. Somit werden die Produkt-Managers zu den Feature-Managers degradiert und können eigentlich nur in seltensten Fällen MVPs entwickeln.

Dann gibt es auch dieses “Minimum Valuable”. Das Produkt Auto hat einen Motor, Räder und einen CD-Player. Ohne CD-Player wird dieses Produkt zu einem MVP. Ohne Räder oder Motor, wird das Auto womöglich auch verkauft (das ist dann die Frage des Preises), ist aber kein MVP, weil das Produkt hiermit nicht die Masse der Kunden trifft. Anders gesagt, wenn die Kundenbedürfnisse als eine mehrdimensionale Gauß-Kurve vorstellbar sind, beinhaltet das MVP die Features innerhalb einer Standardabweichung von dem Mittelwert – also nicht so viele Features, dass die Mehrheit der Kunden zufrieden sind (das wäre dann das klassische Produkt), sondern nur die Features, mit denen man mit dem geringsten Aufwand eine erhebliche Kundengruppe erreichen kann. Wir merken uns: wenn wir weniger Sprints haben, als nötig wäre, um etwas Vernünftiges sinnvoll zu entwickeln, wird das Ergebnis nicht automatisch zu einem MVP. Sondern womöglich zu einem Auto ohne Räder – etwas, was 0,3% der Menschen kaufen würden und ist somit kein valides MVP.

Und zu guter Letzt, gehört zu jedem Begriff auch die bestimmungsgemaße Verwendung. Wann setzt man ein MVPs ein? Man hat eine Produktidee und möchte testen, ob sie gut ankommt, ohne dabei Geld und Zeit für Marketing-Research und Umfragen, oder vollwertige klassische Produkte ausgeben zu wollen – in der Situation, wo Fake Doors keine aussagekräftige Testergebnisse liefern. Wir merken uns: wenn ein Fake Door ausreichend ist, soll man lieber es machen, weil MVP teurer ist, denn es muss gebaut und geliefert werden. Fake Doors können aber z.B. dann nicht eingesetzt werden, wenn Kunden zuerst eine kostenlose Version nutzen müssten, um überhaupt für sich das Bedürfnis zu entwickeln, so ein Produkt zu verwenden – bevor sie zu einer kostenpflichtigen Version geführt werden.

Es ist wichtig zu verstehen: MVP ist deswegen ein Produkt, weil man eben eine Produkt-Idee damit testet. Soll eine Feature-Idee getestet werden, gibt es dafür andere Möglichkeiten: der klassische A/B Test oder eben die Fake Doors. Und anders herum: muss die Produkt-Idee nicht getestet werden (weil sie z.B. von der Konkurrenz bereits benutzt wird), braucht man auch kein MVP – nicht jede Produktentwicklung soll unbedingt eine MVP-Phase beinhalten.

Warum ist es mir wichtig, zwischen A/B Test und MVP zu unterscheiden? Wenn ein A/B Test erfolgreich ist, wird ein bestehendes Produkt um 3% bis 10% verbessert. Wenn ein MVP erfolgreich ist, bekommt man einen weiteren Standbein – ein weiteres Core-Business, was im Idealfall sogar unabhängig von den bestehenden Produkten funktioniert und so die Marktrisiken diversifiziert. Auch wenn 100% von einem MVP in Euro ausgedruckt weniger sein können, als die 3% von dem Core-Business, sprechen wir hier um ganz unterschiedliche Entwicklungen. Im ersten Fall will man mit viel Aufwand von 99,99% auf 99,999% aufsteigen. Im zweiten Fall geht man in die Breite und macht quick wins.

Die traurige Realität ist in Deutschland so, dass MVP sich fast zu einem Kargo-Kult avanciert hat. Man sieht sich nur so gerne als der zweite Steve Jobs, und möchte mit den gleichen Toys spielen, wie die Big Boys in Silicon Valley. Der beste Weg zur Besserung wäre, zunächst einmal mit sich selbst ehrlich zu sein und aufzuhören, seine eigene Deliverables als MVPs zu bezeichnen.

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