Augenblick

Als ich heute von der Arbeit nach Hause ging, lief ich durch den Park. Unterwegs dachte ich an eine Person, die ich sehr vermisse. Das konnte also ein ganz gewohnlicher trauriger Spaziergang sein, wenn nicht das Frühling.

Was heute in dem Park von statten ging, kann ich kaum in Worte fassen. Knospen wurden heute zu Blätter. Das ist ein sehr kurze Augenblick, der Stunden, maximal ein Tag dauert. Ein Tag davor waren die meisten Knospen noch dicht geschlossen, und ein Tag danach gibt es schon kaum Knospen mehr. Und heute…

Heute gab es sie allen – Knospen, die kaum noch warten können, sich zu öffnen, dann die anderen, woraus schon eine grüne Rasierklinge des Blatts herausstreckt, und natürlich auch kleine, aber vollwertige Blätterchen, die ihre Knospe schon abgelegt haben. Und die Natur war so unterschiedlich und abwechslungsreich, dass ich kaum ein Hundert Meter in Ruhe laufen konnte, bis ich mich vor dem nächsten Wunder aufhalten musste.

Flauschige salat-grüne Knospen. Dunkel-grüne Blätter mit roten Adern. Weiß-grüne längliche Blätter. Braun-lackierte Zweige mit großen dunkel-roten Knospen und einer saftigen hell-grünen Flamme, die aus dem Fackel der Knospe erscheint. Ein Büschel von blau-grünen kleinen Blättern, die von der Farbe her an die Wassermelonenschale erinnern. Vier-fünf enge scharfe Blätter, die wie ein kleines Feuerwerk aus einer Knospe in alle Himmelsrichtungen schießen. Dunkel-grünes Wasser im Pegnitz, das zwischen den von Laub bedeckten und deswegen hell-braunen Ufern fließt. Dunkel-Orange Holz eines Baums, das im Winter gefällt wurde und jetzt auf dem neuen Grün liegt…

Die Gärtnerei hat schon Tulpen gepflanzt, aber ehrlich gesagt, sahen heute die sonst schönen Blümen zu schlicht aus im Vergleich zum Farbenpracht der Bäume. Da habe ich mir gedacht, dass jedes, auch sonst so unansehliches Lebewesen, wohl einen kurzen Augenblick im Leben hat, wo es so strahlend schön ist, dass es die etablierten Schönheiten in Schatten stellt.

Als der Park zu Ende war, habe ich einen alten großen Baum gesehen. Die Rinde war ganz schwarz, sie hatte keinen einzigen grünen Flecken, und der Baum schien schon abgestorben zu sein. Doch seine Zweigen waren voll mit komischen schwarzen Verdickungen. Das können unmöglich Knospen sein, dachte ich, kam heran und fasste sie vorsichtig an. Das waren Knospen! Sie hofften auch und warteten gedultig auf ihre Zeit, auf ihren einen Augenblick. Und ich weiß ganz bestimmt, dass diese Zeit kommt.

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